Unterstellt, wir nähmen die Erkenntnisse aus Kognitionsforschung, Verhaltensökonomik und Neuroscience – etwa zu kognitiven Verzerrungen und Denkfehlern – ernst: Was bedeutete das für die Klärung normativer Themen, etwa von Sinnfragen: Lässt sich derlei wissenschaftlich überhaupt bestimmen? Wie viel Verlass ist auf »Eindeutigkeit« oder solide »Wahrheit« solcher Klärungen, wenn vorbewusste Wertungstendenzen, Verzerrungen (»Bias«) oder ganz schlicht: die Bedingungen unserer Gehirnarchitektur untilgbar durchschlagen? Für die Debatte um Purpose-Fragen ist dieses sorgsam gehütete Tabu brisant.
Eine Relativierung steht im Raum: Zumindest die aktuelle Wissenschaft ist für unser Interesse hier kein geeignetes Instrument, und Wahrheit kein geeignetes Kriterium. Denn solange Wissenschaft von Menschen verantwortet wird, gibt es keine Forschungsergebnisse, die nicht über solche Bias-Strukturen laufen. Mit anderen Worten: Wenn uns jemand einen Wert oder eine Norm »verkaufen« (diskursiv begründen) oder etwas wissenschaftlich untermauern will - zum Beispiel, warum Purpose wichtig ist - muss die Person nicht egoistisch sein, aber sie argumentiert doch niemals objektiv. Objektivität gibt es in diesem Feld nicht. Selbst, wenn »gemessen« wurde, beispielsweise Verhalten: Das ist immer situiert, steht im Kontext, es geht um konkrete, individuelle Personen. Eine Kontextverschiebung erzeugt andere Ergebnisse. Es ist eine Scheinwahrheit zu behaupten, dass Mitarbeitende kaum beste Ergebnisse liefern, wenn sie nicht wüssten, wofür ihr Unternehmen überhaupt steht, wo sein Sinn liegt: Es gibt eben auch Tausende von Gegenbeispielen. Logisch – denn selbst wenn die Firma keinerlei Orientierung hat, ist es doch möglich, dass ein Vertriebsteam sehr gut funktioniert, oder dass eine Kundin bestens zu ihren Ansprechpartner:innen in der Firma passt. Sofern die Führung nicht aktiv stört, kann ein solches Unternehmen gute Marktleistungen erbringen. Wissenschaft misst das, was sie gerade sieht. Menschen jedoch sind keine Objekte, sondern Subjekte.
Das ist für alle, die sich um eine faktenorientierte Debatte bemühen und den Realitätsverdrehern nicht das Feld überlassen wollen, keine gute Nachricht. Wir finden sie indes gar nicht so dramatisch – unter einer Bedingung: Dass wir akzeptieren, dass unsere (bisherige) Wissenschaft dringend ein Update braucht. Eine komplexitätsorientierte Aufstufung ihres »Framework«. Fakten sind nach wie vor Belege der Wirklichkeit, bloß: keine hinreichenden. Die humanwissenschaftliche Zukunftsforschung, genauso wie die moderne Physik und andere neuere Disziplinen, haben ihre Wissenschaftskriterien längst aktualisiert. Dass beispielsweise der (subjektive) Beobachterstatus der Wissenschaftler:innen notorisch Einfluss nimmt auf ihre Forschungsergebnisse, sollte eigentlich inzwischen trivial sein, ist es aber nicht. Wissenschaftliche Fachöffentlichkeiten schütten die Bevölkerung stoisch einfach weiter mit Zahlen, Daten, Fakten zu und meinen ernsthaft, das sei ein zureichender Grund für Glaubwürdigkeit und humane Faktizität („die anderen haben oder nutzen doch gar keine belegbaren Daten!“ Tja, mag sein. Unter Blinden ist der Einäugige eben König).
Bei vielen Themen ist solches Material (also die Zahlen-Daten-Fakten-Huberei) jedoch noch nicht einmal ein Anfang, sondern schlicht nicht relevant. Diese Aussage hat nichts mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun, sondern mit Kritik an einer Wissenschaft, die in weiten Teilen schon lange nicht mehr auf der Höhe ihrer eigenen Wissensstände operiert. Bezogen auf Purpose: Wenn wir über Sinn diskutieren, ist die einzige Chance, eine gewisse (aber auch dann immer begrenzte) Objektivität zu sichern, uns an unserer eigenen Lebensform zu orientieren. Wir diskutieren über menschliche Sinngebung. Auf diesem Podium sitzen weder Engel oder Götter, also überirdisch-objektive Wesen, noch Eichhörnchen, Mäuse oder Ameisen, sondern Homo sapiens. Mag ja sein, dass analytisches Zergliedern („draw a distinction“) als ein probates Wissenschaftsprinzip gilt. Aber wenn wir wollen, dass unsere Gesellschaft dauerhaft intakt bleibt, brauchen wir als Bemessungsgrundlage von einer dafür geeigneten Wissenschaft noch etwas anderes als nur die Dauer-Herausstreichung von Unterschieden, von Abgrenzungen, Teilungen und Trennungen. Wir brauchen genauso einen Bodensatz an Dingen, die uns verbinden, und in denen auch unsere Wissenschaften allesamt wurzeln. (Ob dieser Bodensatz dann tatsächlich, wirklich, wahrhaft und unumstößlich faktisch-real ist – ob also das Goldene Kalb der »evidenzbasierten Forschung« sein Zückerchen bekommt – kann uns herzlich egal sein. Beurteilen könnte das nur Gott.)
Das Empfindungsvermögen für andere, die Fähigkeit zur Empathie, ist der Kern dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein; ohne das gibt es keinen Sinn (zur Erinnerung: etymologisch Pate dafür stehen unsere »Sinne«!). Letztlich geht es um die Entscheidung, ob wir alles, was wir denken, wollen und tun, und was wir zu diesen Zwecken erforschen, an solchem (biologisch-organischem) Leben ausrichten wollen oder nicht. Für Menschen machte jedenfalls nur das: Sinn. In Zeiten des heraufdämmernden Maschinenalters ist dies freilich eine alles andere als banale Frage. Die Wellen dieser Kontroverse schlagen hoch, es geht um viel.
Wenn wir das so akzeptieren und praktizieren wollen, wäre die oberste Wissenschaftspflicht, jede neue Erkenntnis über uns Menschen, also etwa neue Einsichten über Fallstricke in unserem Denkapparat, umgehend in die Wissenschaftskriterien mit aufzunehmen bzw. dort einzuarbeiten. Nur dann können wir vielleicht geduldig und konsequent allmählich immer treffender herausdestillieren, was für uns Sinn eigentlich ausmacht. Die aktuellen (logischerweise unterschiedlichen und eben oftmals auch gegensätzlichen) Aussagen der Wissenschaft zu Purposefragen, Pro und Contra, sind im Augenblick reine Betaversionen: Meinungen; trotz argumentativer Ausdifferenzierung. Und die Purpose-Forschung ist es leider auch. Zu allermeist wird beforscht und gemessen, was Sinn objektiv ist (Befragung, Hirn-Scan bzgl. Emotionen, Langzeitstudien zum Lebensstil u. Ä.). Knapp daneben ist auch vorbei.
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(P.S.: Die Autorin liest gerade den neuen Schinken von Kahneman, »Noise« – der jede Minute wert ist. Dort steht im Detail, warum Menschen Sinn niemals objektiv kalibrieren können. Kahnemans Label dafür: Noise, das »Rauschen« einer jeden Situation, soweit sie Lebewesen betrifft. Der Punkt: Unser Sinnkorridor wechselt mit jedem Grad der Temperatur im Umfeld. Mit jeder Luxzahl, jeder Lichtveränderung. In jedem Kontext. Ob wir müde sind oder ausgeschlafen. Ob wir allein sind oder nicht. Ob wir Freunde oder Feinde um uns herum haben – usw. Er bleibt nur in einem immer gleich: Wir alle eichen menschliche Belange auf dieselbe Weise. Wir spiegeln automatisch in uns die Bedürfnisstruktur der Gegenüber. Und deshalb sind unsere Sinnfragen seit Jahrtausenden die gleichen.)
Wer ein Herz für zeitgemäßes Denkvermögen hat: Unsere Instrumente dafür sind Denk Tanks, Keynotes und Bücher. Und wer sich für eine Purpose-Entwicklung interessiert, die Subjektivität systematisch einpreist, ist womöglich mit unserem Purpose - Tank up gut bedient. Reinschauen!
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