REIHE DURCHBLICK: Transformations-Gesellschaft. Was wäre zu tun, wenn wir wirklich dorthin wollten?

Worum geht's?

Bundestagswahl geschafft, die nächsten Monate gehören Strategie und Taktik. Gibt es - abseits der Machtspiele - zentrale »Mega«-Hausaufgaben, die gemacht werden müssten? Vielen dürften bei dieser Frage Themen und Projekte einfallen wie Digitalisierung, ökologischer Wandel, Gesundheitssystem reparieren oder Ungleichheit bekämpfen. Zukunftsforschung bewertet indes »in the long run« - für uns sind solche Projekte sozusagen eingepreist, sie stecken in den Mega-Hausaufgaben drin. Was also wären aus zukunftsforscherischer Sicht Großaufgaben, in deren Folge wir dann auch digitaler, ökologischer und gerechter werden könnten?

Hier selektiv drei Felder. Alle haben mit Purpose zu tun, mit Sinnfragen. Soll heißen, es geht dabei weder um Lösungen (Credo der Unternehmer* und Politiker*) noch um richtige, wahre oder allgemeingültige Antworten (Credo der Wissenschaft). Und damit sind wir auch schon beim Kern des Problems: Denn wir kennen 

  1. noch nicht einmal die logische Ebene, auf der wir bei den großen Fragen suchen müssten; und 
  2. das einzige, was die Gesellschaft interessiert, sind konkrete Ideen, Antworten, Vorschläge, Beispiele. L Ö S U N G E N. Unsere Gesellschaft ächzt unter Denkentlastungsbedürfnissen - bloß keine Konzepte! Bloß kein abstraktes Zeugs! Das Letzte: Theorien. Das Attribut für Denken auf Unternehmerdeutsch lautet »akademisch«.

Gibt es ein unauffälligeres und gleichzeitig wirksameres Mittel, sich echten Wandel vom Hals zu halten? Denn wenn Nach- und Umdenken verweigert wird, gibt's für neuartige Problemlagen konsequenterweise auch keine Lösungen. Bisher hat dieses Programm eine Resonanz wie geschnitten’ Brot. Und da ohne konzeptionellen Gesamtrahmen auch keinerlei Maßstäbe vorhanden sind, ob ein Vorhaben oder eine Idee »gut« oder »schlecht« wäre, und deshalb logischerweise auch kaum richtungsweisende Vorhaben und Ideen auftauchen (jenseits des Niveaus von »sehr interessant«), können wir auf diese Weise noch ein paar Jahre die Transformationsgesellschaft vorbereiten. Allerdings nicht machen. Aber genau das könnte das Ziel dieses Programms sein.

1. Wirtschaft

In der Wirtschaft brauchen wir einen System-Wandel, einen nächsten Kapitalismus: etwa ein anderes Wachstumsmodell und Firmen, die führungsstrategisch und unternehmenskulturell willens und in der Lage sind, das umzusetzen. Und Kunden, die dabei mithelfen – in breiter Masse. Denn Firmen und Kunden, Anbieter und Nachfrager, sind das System. Wer genau ist das, wo sind diese Leute? Das gehört zur Purpose-Frage der Wirtschaftswelt. Cov19 hat in vielen Organisationen in einem immensen Schub deutlich werden lassen, was im Argen liegt, bemessen an bisherigen Führungskriterien: Es fiel auf, was eigentlich nicht gut läuft, bisher jedoch unter dem Deckel blieb. Was aber ist mit künftigen Führungskriterien: denen, die wir bräuchten in einem nachhaltig wirtschaftenden, globalen, deutlich resilienteren System? Woher kommen diese Kriterien, wer definiert sie? Wir diskutieren über Grundeinkommen, neuartige KPI’s und agiles Enabling – wo ist der Rahmen, der all dies konsistent bindet? Dieser Rahmen muss nicht nur digital, ökologisch und sozial Sinn ergeben – er muss erst einmal rein logisch sinnvoll sein, verstehbar und jedem plausibel zu machen. Er muss unseren europäischen Vernunftkriterien entsprechen. Und genau dafür müssten wir geistig ein wenig arbeiten. Davon sind wir Äonen entfernt. (Beispiele gibt's übrigens, für Wirtschaft und Politik jeweils eines hier.)

2. Politik

In der Politik brauchen wir andere Formen von Regierungshandeln und Rechtfertigung, von Repräsentation und Fachexpertise im Parlament. Wir werden absehbar über Fragen wie KI-Ethik oder die künstliche Erschaffung von Leben zu entscheiden haben. Woher soll das erforderliche Wissen über solch komplexe Fragen kommen? Nicht die Parlamentarier wären zu dumm dafür, sondern unser Institutionensystem ist mit der Organisationen solchen Wissens hoffnungslos überfordert: Dafür ist es schlicht nicht gemacht. Unsere Demokratie funktioniert strukturell gut, läuft jedoch mental auf Schienen aus dem 19., teilweise auch schon aus dem 20. Jahrhundert (Einpreisung der Weimar-Erfahrung). Viele Menschen fühlen sich heute vom System nicht mehr repräsentiert. Und ein Denken in Legislaturperioden, über 4-5 Jahre, in denen sich unsere Führungskader für Langfristverantwortung systematisch wegducken können, ist in einem nachhaltigen System vom Prinzip her nicht mehr möglich. – Das sind Purpose-Fragen des politischen Systems. Wir können nicht erkennen, dass Sie öffentlich auch nur gestellt würden. Bevor dies nicht geschieht, braucht man mit Gerechtigkeitsfragen (!) gar nicht erst anzufangen.

3. Wissenschaft

In der Wissenschaft werden wir dem wohlfeilen Gerede über Trans- und Interdisziplinarität Taten folgen lassen müssen, wenn es mit der Transformation einmal ernst werden sollte. Bis heute laufen Naturwissenschaften einerseits sowie Sozial- und Geisteswissenschaften andererseits im wesentlichen parallel – korrekt formuliert: aneinander vorbei. Letztere ignorieren bis heute das, was in der Physik vor 100 Jahren passiert ist (Quantenmechanik, Relativitätstheorie) im Grunde vollständig und reformulieren unbeeindruckt den universalistischen Geltungsanspruch, nutzen eine aristotelische, zweiwertige Logik, Wissenschaftskriterien wie Objektivität oder Reliabilität und so weiter. Unsere Wissenseliten tun so, als ob diese Weiche die reale Welt nichts anginge, was scheinbar ja auch stimmt: Es berührt uns nicht, ob und wie »Quanten« springen, was »Superpositionen«  sein mögen oder genau bedeuten. Dabei stehen wir dank derjenigen Technologien, die sich aus eben dieser Wissensrevolution ergeben, kurz davor, dass unsere Gattung extraterrestrisch wird: Wir werden in den nächsten 30 Jahren erstmalig die Erde mit ernsthaften kolonialistischen Motiven verlassen (Unterschied zur Mondlandung). An der Mars-Mission der Amerikaner konvergieren ganz konkret alle menschlichen Wissenskulturen. Was sagen unsere Geistes- und Sozialwissenschaften zu dieser anthropologischen Zäsur? Wir sind geistig schon lange nicht mehr auf der Höhe unserer Technologien. Das ist eine der Purpose-Fragen dort. (Wir verkneifen uns aus Platzgründen die alles überwölbende Gretchenfrage zu diesen Absehbarkeiten.) Macht ein solches Wissenschaftsverständnis noch irgendeinen Sinn? Hilft es unserer Zivilisation, hilft es für nächste Wenden und Weiterentwicklungen?

... soll heißen:

Wenn dem Fuchs die Trauben zu hoch hängen, sind sie eben sauer: »Das ist doch alles akademisch!«

Kann sein. Wir glauben das nicht. Wir glauben eher, dass sich unsere Gesellschaft in Sachen Transformation über diesen albernen Wertungsreflex einen schlanken Fuß macht – und die Transformation, zumindest derzeit, zwar diskursiv in aller Breite inszeniert, praktisch jedoch unterbindet. Weil sie sie schlicht nicht will. Deutschland (und mindestens der Großteil Europas) will etwas anderes: aus rationaler Notwendigkeit (»muss ja«) im bestehenden Weltbild, mit etabliertem Denken, im traditionellen Verhaltensmuster, eine andere Welt. Ob das funktioniert? 


Das Ganze kompakt in 4.35 Min. auf Youtube. Das verdeckte Thema hier heißt selbstverständlich Führung - in allen drei Bereichen (und noch ein paar anderen).


Mehr zum Thema »Karriere in New Work«? Hier entlang

Noch keine Kommentare vorhanden

Was denkst du?