REIHE BEISPIELE: Wie gelingt Kulturwandel durch neue Arbeitsorganisation?

Worum geht's?

Wir haben uns kürzlich mit dem Hype um's Homeoffice, um hybrides Arbeiten und Remote Leadership beschäftigt (BeitragVideo). Unsere Beobachtung: Mit einer neuen Arbeitskultur hat der Homeoffice-Schub unter Corona bislang nichts zu tun; hier geht es fast ausschließlich um Arbeitsorganisation. Und wenn wir uns selbst einreden können, dass eine Umorganisation der Anwesenheitspflicht bereits eine kulturelle Innovation ist, gelingt uns die wirtschaftliche Transformation ja vielleicht doch ganz gut. Deshalb praktizieren wir das gerade alle ganz engagiert und feiern hybrides Arbeiten als »New Work«.

Frage: Gibt es Beispiele für Umstellungen von Arbeitszeit und –ort, die tatsächlich die Arbeitskultur verändern, womöglich tiefgreifend? Was muss geschehen, damit eine raumzeitliche Entregulierung von Büroarbeit in eine selbstorganisiertere, schnellere, autonomere und vielleicht sogar innovativere Entscheidungskultur umschlagen kann? Gibt es Ideenimpulse und Praxis-Splitter zum Klauen?

Disruptive Organisationsmodelle...

Unter den Schlagwörtern »Musterbrecher« oder »Augenhöhewegefilme« sind inzwischen Dutzende von Vorbildern zu besichtigen. Amüsant, dass so häufig danach gefragt wird, diese Beispiele sind nicht mehr ganz frisch (aber zeitlos-inspirierend). Hier ein Fall daraus, auch der etwas angestaubt, aber genau deshalb umso interessanter (was es schon lange alles gibt...!). Ein entsprechendes Unternehmen am Bodensee, hier im kurzen Imagefilm, stellt Ladegutsicherungen her.

• Vertrauensarbeitszeit – in der Produktion (Ein-Stück-Fertigung, Fließband). Ich habe erlebt, dass Betriebswirte das noch nicht einmal glauben, wenn sie es dokumentiert sehen ("coole PR!").

• Verbreiterung und Ausdehnung der Prozesskontrolle: weg von reinen Kennzahlen, hin zu sinnlicher Erfahrbarkeit. Lassen sich Prozessfehler »sichtbar« machen? Durchaus, konkret in der Produktionshalle. Anstatt über Fehler zu reden, gehen die Mitarbeiter »zum Fehler hin« und schaffen damit einen visuellen Indikator. Sind alle unterwegs, läuft 'was schief.

• Umdefinition von »Führung«: ein seltenes Beispiel für geistige Arbeit im Unternehmen. Wenn sich Führung nicht mehr hierarchisch vollzieht, was machen dann die Führungskräfte? Hier gibt’s Vorschläge: neue Rollen.

• Inzwischen häufig praktiziert: Radikale KPI-Transparenz. In der »Schwätzer-Ecke« sind die aktuellen Zahlen ausgehängt. Und so weiter.

... und die Selbstimmunisierung von Führungskräften

Ein paar Highlights aus dem geistigen Gruselkabinett der BWL-Reflexe (nicht ausgedacht!):

• „Mag sein, dass das bei denen funktioniert. In unserer Branche ist das nicht möglich.“

• „Mit meinen Leuten wäre das undenkbar. Sie kennen unsere Mitarbeiter nicht.“

• „Unsere Führungskräfte würden da nicht mitgehen. Die wollen das auch gar nicht – was sollen die denn dann den ganzen Tag über machen?“

• „Telefon und Mails zu verbieten ist doch verrückt. Da spielt doch keiner mit, ständig herumzuwandern – wollen wir jetzt zurück ins Mittelalter?“

Das Unverständnis über den Weltbild-Shift, der sich hier zeigt, ist derart fundamental, dass Debatten über solche Fälle manchmal keinen Sinn machen. Unser eigenes Learning: Transformation kann man nur erleben und erfahren, nicht kommunizieren (weil ohne jede sinnliche Wahrnehmbarkeit) und sogar auch nicht ansehen (weil es »mit mir nichts zu tun« haben muss, d.h. leicht psychisch dissoziierbar ist). Das erschwert Transformation immens - und ist der Grund, warum Innovationshelden wie Steve Jobs u.a. in jeder freien Minute durchs Valley gedüst sind, sich Bonbonfabriken und alle möglichen anderen Fremdfirmen ansehen, besuchen, reingehen, mit den Leuten sprechen. Ohne sinnliche Erfahrbarkeit von Fremdheit ist Fremdheit nicht adaptierbar. Und wenn jeder in seinem eigenen Weltbild-Saft schmort ("meine Kollegen und Wettbewerber sehen das genauso" - übrigens eine sträflich unterschätzte Basisfunktionalität von Kongressen, Tagungen und Verbandstreffen, häufig nicht viel anderes als Silos zur Pflege des Confirmation Bias), wird's eben schwierig.

Für verallgemeinernde, regelgeleitete Vernunfteuropäer muss das, was man bei solchen Zukunftspraktizierern sieht, konsequenterweise dumm sein, unlogisch, verrückt, entlegen, irrational oder pathologisch. Höchst individualistische Spinnerei, weil

a) die eigene Erfahrung fehlt, dass das funktioniert, und

b) die Prinzipien und Maximen, nach denen es funktioniert (die potenzielle Verallgemeinerbarkeit, die wir bräuchten, damit unsere kognitive Festplatte anspringt) unbekannt ist. Es erklärt uns ja keiner.

Das praktische Resultat: Unvernünftig sind immer die anderen. (Das übrigens auf jeden Transformationssektor anwendbar ist.)

Fazit

Kulturveränderung in Organisationen heißt, Werte und Glaubenssätze zu verändern; das ist richtig harte Arbeit. Und die noch schlechtere Botschaft: leider auch die eigenen (das war in der guten alten hierarchischen Zeit noch nicht nötig). Wir schrieben es bereits: Wir wollen das derzeit nicht. Und wenn wir das nicht wollen, kommt jeder Wandel recht, der es erlaubt, das Dauergerede über Transformation irgendwie aufrechtzuerhalten, während sich die Mehrheit der Firmen weiterhin ungestört in der Führungskultur des 20. Jahrhunderts einhaust. Eigentlich könnte uns das ja auch egal sein, wenn wir es uns leisten könnten, uns argumentativ auf Unternehmer- und Eigentumsverantwortlichkeiten zurückzuziehen (»ist doch deren Problem!«). Bloß können wir das nicht mehr. Die Gründe heißen globale Ökonomie, internationaler Wettbewerb oder volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. (Immer wieder einen Verweis wert: Wo steht Europa 2050, wenn wir so weitermachen?). 

Es ist bemerkenswert, was wir gegenwärtig alles schaffen unter die mentale Teppichkante zu kehren. Innerbetrieblicher Kulturwandel ist längst - mindestens seit zwei Jahrzehnten - eine volkswirtschaftliche und soziologische Systemaufgabe. Dass die Firmen stolpern, ist konsequent - wir tun so, als ob sie das für sich alleine lösen müssten. Dabei betrifft sie alle Organisationen, egal, in welchem Bereich. Transformation heißt: die Welt anders betrachten und bewerten. Und genau so, wie die Gesellschaft da nicht hin will, wollen es auch unsere Firmen nicht - logisch, es sind dieselben Menschen. Das größte Faszinosum der Menschheitsgeschichte (Aufstufung unseres Bewusstseins), das nur alle paar Jahrhunderte, teilweise auch nur in Jahrtausenden einmal passiert, und bisher fast ausschließlich durch Krieg und Chaos ausgelöst wurde, könnten wir erstmalig absichtsvoll und systematisch selbst steuern. Und der Kontinent sediert sich. 

to do's:

- Besuchen, anschauen, sprechen. Die bequemste Art, Neuerungen auszusitzen, ist, die Sinne zu versiegeln.

- "Meine Leute sehen das genau so wie ich": Wer sind "Ihre" Leute? Man sieht, was man sieht. Die zweitbequemste Art, Neuerungen auszusitzen, ist, die eigene Community exklusiv zu machen. Das garantiert Status und Sicherheit.


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