Feministische Außenpolitik und ihr Führungsverständnis

Seit 1. März gibt es im Außenministerium den habituell einzuschleifenden "feministischen Reflex", inklusive Trainerin (eine "Beauftragte im Rang einer Botschafterin", SZ). Foreign policy goes feminist. Sind wir außengesellschaftlich nun politikfähiger? 

Early Warning: Bemessen am Job eines Außenministeriums: Im Gegenteil. Bemessen am eigenen Weltbildchen: Unbedingt.

Grund der Frage

Der westliche Kulturkreis hat vor ca. 250 Jahren eine steile Idee entwickelt. Auf schlau nennt sie sich „universalistischer Geltungsanspruch“. WaszurHölle ist das? Er bezeichnet die Überzeugung von Westlern, dass die eigenen Werte so grandios sind, dass sie für jeden Zweibeiner auf diesem Planeten handlungsleitend und verbindlich sein können. Verzeihung: sollen. Meint: Diese Werte gelten für alle.

Beispiele:

  • Freiheit
  • Gleichheit
  • Demokratie
  • Fairness und Gerechtigkeit 
  • Friedliche Koexistenz, Friedenserhalt
  • Menschenrechte
  • generell verbindliche Rechtsstandards (Rechtsstaat usw.) …

Ich finde sie auch großartig. Bloß sind nicht alle Menschen auf diesem Planeten Okzidentale. Und mit dieser Einsicht ensteht ein Problem.

Das Problem

Zwar wird es keinen Zweibeiner geben, der die Legitimität und Relevanz dieser Werte bestreitet. Es gibt jedoch eine Menge Kulturen und Gesellschaften, für die unsere Werte in deren Präferenzliste nicht oben auf der Agenda stehen. Sind die nur blöd, renitent oder gar verrückt?

Beispiele:

• Viele Gesellschaften basieren auf kulturellen Werten, die religiös, kollektivistisch, über Jahrhunderte traditionell gewachsen oder anderweitig für diese Gruppe ethisch verpflichtend sind (so wie unsere Werte für uns). So ist z.B. in kollektivistischen Kulturen die Gruppe wichtiger als der Einzelne. Oder die Dorfgemeinschaft und deren Zusammenhalt in einer unwirtlichen Umgebung wichtiger als das Individuum. Freiheit finden alle gut – aber in solchen kulturellen Rahmen steht sie entweder weiter unten im Werte-Ranking oder, was meistens hinzukommt, bedeutet etwas anderes als bei uns.

• Analoges gilt für Fairness und Gleichheit. Steht die Gruppe im Vordergrund, verändern sich die Maßstäbe für das, was als fair und gerecht gilt. In China etwa lautet der Maßstab 1,4 Milliarden Menschen.

• Einige Gesellschaften befinden sich in einem Dauerkriegszustand, der sich in eine Art Normalität verwandelt hat (die niemand wollte und will). Frieden ist ein hehrer Wert, derzeit für diese aber nicht erreichbar. Und in kriegerischen Situationen zählt dann logischerweise anderes. Einem Volk im Krieg die hohe Bedeutung von Frieden zu erklären ist … wenig hilfreich.

• Menschenrechte und Rechtsstandards sind eine feine Sache, die sich viele andere Gesellschaften auch wünschen – z.B., weil deren Eliten korrupt sind oder, wie im Iran, die Eliten andere Vorstellungen von Rechten haben als die Bevölkerung. – Offenbar passiert uns im Westen so etwas nicht, daher reklamieren wir sie auch so selbstbewusst. Da muss man halt den Staat gut genug organisieren! (Menschenrechte am Mittelmeer? Guantanamo?...) 🤣😂😅

Die Reaktion unserer Führungs- und Wissenseliten auf das Begeisterungsdefizit der Anderen

Mit Führungseliten meine ich Politik- und Wirtschaftslenker*innen, mit Wissenseliten die akademische Zunft. Erstere machen den universalistischen Geltungsanspruch nun fit für das 21. Jahrhundert. Motto: Jetzt erst recht! »Normative Standards des Westens für alle« war gestern, inzwischen hängt die Latte höher. Unsere Außenpolitik erfindet sich neu, sie will jetzt bei den Anderen – also durch ihren Auftrag, Beziehungen zu anderen Ländern zu stiften, zu stabilisieren und zu verbessern – nicht mehr nur die (ohnehin schon unbescheidene) obige Werteliste etablieren. Ab jetzt werden auch unsere jeweils neuesten geistigen Ansprüche in die Welt getragen, denn der »Mensch« in den »Menschen«rechten, haben wir im Westen inzwischen gelernt, ist höchst divers. Peter Neumann nennt das in der ZEIT „ein neues Selbstbewusstsein des Westens und Europas“. Na endlich.

Ich stelle mir das so vor:

Frau Baerbock reist in den Iran zu den Mullahs, hält einen Vortrag über Cis-Männer und Transgender und in diesem Zuge auch über die Prämisse von all dem, nämlich dass dafür aber wenigstens die Frauenrechte geachtet werden müssen. Wir werden staunen dürfen, wie gut sich auf diesem Humus eine friedliche Koexistenz multikultureller und multiperspektivischer außenpolitischer Beziehungen mit anderen Völkern entwickelt. Wie warmherzig sich Kommunikationen gestalten, die normative Augenhöhe von vornherein qua Politiklabel („Feministische Außenpolitik“) ausschließen. Wie professionell und kompetent außenpolitisches Beziehungsmanagement wahrgenommen wird und funktioniert, wenn man Andersdenkenden bei der Antrittsrede gleich mal die Welt erklärt (wir üben das bei jedem Staatsbesuch in China), klar zu erkennen gibt, wer hier moralisch den Hut auf hat und die Brand »Western World« im guten alten »universalistischen« Sinne (jetzt nur noch ein bisschen differenzierter und selbstbewusster) tiefer einbrennt.

Fortschrittswarnung: Der Westen weiß jetzt, wie Multi-Krisen besänftigt werden

In Kriegszeiten ist das eine mutige Strategie. Experimentieren ist bekanntlich »in«, vielleicht möchte das Außenministerium nicht nachstehen und modern und gendergerecht Flagge zeigen. Da fühlt man sich von der politischen Führung gleich gut vertreten und entspannt sich, es kann losgehen mit dem Frieden. Wer sind wir denn, dass wir uns von Kontrahenten auch nur einen Centimeter unseres Weltbildes streitig machen ließen? Die Verhandlungsposition von vornherein markieren: »Hier bewegt sich nur einer, und der Westen wird es nicht sein« - so geht ab sofort Augenhöhe, jetzt auf selbstbewusst.

Um dem Stammtischreflex gleich entgegenzutreten: Nein, das bedeutet nicht, sogar Putin verstehen zu sollen und unterschiedslos Empathie über die Welt zu kippen. Es bedeutet, im Gegensatz zu bisher unsere Außenbeziehungen langfristig als anschlussfähige aufzubauen, sie inklusiv zu gestalten - also daran zu arbeiten, peu à peu immer mehr und neue »Links« zu erzeugen, über die Beziehungen laufen können. Von Handel bis Kultur-Partnerschaften. Ein solches »Schnittstellenmanagement« erfordert eine Menge Wissen und echtes Interesse am Anderen, um vorhandene Link-Bereiche (Wirtschaft, Asylthemen usw.) nicht nur fortzuführen, sondern das Link-System systematisch zu erweitern und zu verdichten. So etwas passiert niemals nebenbei. Es ist kein »non-intended by-product«, über das sich Jahrzehnte später alle freuen, sondern harte Arbeit. - Und wir? Bleiben uns treu. Wir investieren in Exklusivität. Im Westen ging es beim Außen noch nie zuerst um die Anderen, sondern erst mal um uns.

Nachgereicht: Was hat der Homo academicus mit all dem zu tun? Nun, er hat den moralischen Universalismus, der die Politik füttert, seit den 1960er Jahren hochgerüstet und feinkalibriert. Sofern wir nur zu uns selbst, also der Westen zum Westen, sprechen, ist daran nichts auszusetzen. Dass unsere Achtsamkeit gegenüber bisher tabuisierten Diskriminierungen wächst, dass wir nicht nur auf Frauenrechte, sondern inzwischen auch auf diverse Minderheiten schauen, ist eine gute Entwicklung. Für uns. Innerhalb des großen Westens stufen wir unser Bewusstsein für unsere eigenen normativen Standards weiter auf – darauf dürfen wir stolz sein, unkontrovers.

Zeitenwende-Preisfrage: Was ist mit den Anderen? Die sind ja »noch nicht so weit« - werden die jetzt »noch egaler«? Zumindest das Außenministerium weiß die Antwort: Licht aus zwischen den Ohren, sich nicht irritieren lassen und nur umso selbstüberzeugter weitermachen. Je härter die Zeiten, desto engstirniger der geistige Radius – sa sdarówje auf den Confirmation-Bias.

Zukunft

So wird der Westen also selbstbewusst. Zukunftsforscherisch war das anders gedacht. Sogar der Universalist Jürgen Habermas, bekannt u.a. als unermüdlicher Zulieferer westlich-allgemeingültiger Werte-Standards, hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung – entgegen der eigenwilligen Idee unserer politischen Führung, inmitten einer ungewissen europäischen Kriegssituation einen Selbstbewusstseins-Booster zu zünden – zu mehr Vorsicht und Weitsicht gemahnt. Daraufhin sind in der Universalismus-Republik eine ganze Reihe geistiger Drähte durchgebrannt. Merke: Sogar die universalistischen Norm-Lieferanten der etablierten westlichen Strategie bekommen inzwischen Angst vor der eigenen Courage: So hatten sie sich die Sache offenbar selbst nicht vorgestellt. Dass in einer globalen, kommunikationspolitisch schrumpfenden Welt die westliche Haltung gegenüber den normativen Grundlagen Anderer inzwischen zu einer Verweigerungsideologie mutiert ist, sich - programmatisch! - mit den Aspirationen anderer Menschen überhaupt auseinanderzusetzen, erzeugt Nachdenklichkeit; bis hin zu feiner Nachjustierung der eigenen vormaligen Position. Die Irritation: Ein von staatlichen Führungseliten stolz zur Schau getragenes Postkolonialismus-Marketing hatten wir bisher noch nicht. Und die Leitmedien applaudieren.

Unsere bisherige Universalismus-Attitüde aus dem 19. Jahrhundert (der unschöne, aber ehrliche Traditionsname ›Kolonialismus‹ ist inzwischen tabu) hatte sich immerhin noch darum bemüht, das westliche Ziel des ganzen Antritts gerade zu vernebeln, unter den Teppich zu kehren und als westlich-humanistisches Bildungsangebot für mental Zurückgebliebene zu inszenieren. Und Homo academicus lieferte bislang genau dafür auch zuverlässig den begrifflichen Flankenschutz, z. B. „nachholende Modernisierung“ (damals noch von? Jürgen Habermas). Auf schlau klingt das auch gleich viel besser, edler – wir meinen es doch nur gut!

Offenbar bricht nun aber die geistige Supply-Chain ein. Den ersten reicht's. Aber auch wir selbst – zuversichtlich-hoffnungsfroh, wie Zukunftsforscher zumeist sind – dachten bisher, der Westen würde seine übergriffige normative Missachtung Anderer ablegen und eben dies als Weiterentwicklung begreifen und anstreben. (Ich unterstelle Herrn Habermas inzwischen, dass er das wohl auch so ähnlich erhoffte.) Nun, man lernt nie aus. Was wir ablegen, ist nicht das über-Andere-Hingwegsehen, sondern unser verdruckstes Mindset, in dem wir das bisher praktiziert haben! Wir wechseln einfach überkommene, heute provokante Label aus und schreiten fort, indem wir den alten Sermon künftig nur selbstbewusster verkaufen. 

Ob der Westen damit

  • Freiheit
  • Gleichheit
  • Demokratie
  • Fairness und Gerechtigkeit
  • Friedliche Koexistenz, Friedenserhalt
  • Menschenrechte
  • generell verbindliche Rechtsstandards (Rechtsstaat usw.) …

sichert, werden wir alle erleben. Außenpolitisch signalisiert die Bilanz dieser Strategie des Westens in den letzten 20 Jahren – vom Irak über Afghanistan bis zur Demokratisierung von »Greater Middle East« – eher Luft nach oben. Aber vielleicht klappt's ja jetzt stramm feministisch besser.

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