Zukunftsforschung Ukraine - Szenarien

Die internationale Zukunftsforschungs-Community flankiert den Krieg bereits ausführlich. Sohail Inayatullah beispielsweise (UNESCO Chair in Futures Studies) hat zusammen mit einer Kollegin folgende vier Kurz-Szenarien entwickelt zum Ausgang des Ukraine-Krieges (gepostet auf LinkedIn); Entwicklungslogiken (»Trajektorien« auf schlau), was sich abzeichnen könnte. Der externe Blick auf unser europäisches Geschehen ist dabei – wie immer – erhellend und auch bestürzend. 

1. WW3. China lernt aus diesem Ereignis und marschiert in Taiwan ein. Diesmal sind der Westen - andere - bereit und ein umfassender Krieg bricht aus. Putin geht pleite und versucht, Osteuropa zurückzuerobern, Polen, aber auch andere umkämpfte Gebiete. Afrika hält sich im Allgemeinen aus dem Krieg heraus, aber die meisten Regionen sind daran beteiligt. Auch andere Nationen sehen Chancen und ergreifen, was sie können. Die Metapher hier: Alles wird heiß.

2. Der neue Marshallplan. Das Versäumnis des Westens, Russland und andere in einen Sicherheitsschirm einzubeziehen, ist ein ursächlicher Faktor in der aktuellen Krise. Diesmal wird Russland jedoch aus der Kälte geholt. Die Hierarchie der Kultur (Westeuropa oben: Östlich unten) wird in eine Partnerschaft umgewandelt. Wie Deutschland nach dem 2. Weltkrieg baut Russland wieder auf und integriert sich in Europa. Während der Westen inklusiver wird, sieht China die Vorteile und verzeiht vergangene Übertretungen (zum Beispiel den Opiumkrieg). Die Metapher: Russland kommt aus der Kälte.

3. Langfristkonflikt in der Ukraine. Russland entmilitarisiert die Ukraine und remilitarisiert auf der Grundlage seiner Sicherheitsbedürfnisse. Die Ukraine ist teilweise oder vollständig besetzt. Die Proteste in der Ukraine und in Russland dauern an, aber mit wenig Wirkung. Sanktionen schaden immer mehr, aber nicht genug, um zu politischen Veränderungen zu führen. Der Reichtum der Ukraine, aber auch die hohen Ölpreise ermöglichen es Putin, selbst den wahrscheinlichen Bürgerkrieg in der Ukraine zu überstehen. Die Ächtung fordert jedoch einen Tribut von Putin, da er und seine „königlichen Hofgenossen“ weltweit gemieden werden. China und andere bevorzugen strategische Ambiguität. Die Metapher: Langer und langsamer Verfall.

4. Konflikttransformation. Dieser Konflikt wird zu einer Gelegenheit, das Weltsystem zu überdenken und das Patriarchat, den Imperialismus und das Schlimmste des Kapitalismus zu reduzieren. Eine UNO mit Zähnen (und eine WHO mit Zähnen) sind Beispiele, wo Global Governance gefragt ist. Friedenstruppen werden nach dem Vorbild eines Earthpol (Überwachung des neuen Green Deal) geschaffen. Sie sind in der Lage, Konflikten überall zu trotzen, z. B. in der Ukraine, in den USA, in China und in Australien. Dies ist eine weitaus demokratischere UNO, in der die nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen Regeln angesichts der neuen Realitäten geändert werden. Ein gaianisches Gemeinwesen entsteht. Wir „impfen“ gegen Krieg. Die Metapher: „Gaia“ (die neue ökologische Weltordnung) braucht Gesetze.

Stand heute (4.3.22): Wie ist das zu bewerten?

Jenseits des heißen Kriegskerns wird das Geschehen deutlich nüchterner betrachtet als bei uns. 

  • #1 ist eine reale Gefahr (kein Risiko!), falls Putin mit seinem Vorhaben durchkommt.
  • #2 ist sehr interessant. Gefühlt liegt dieses Szenario für Europäer derzeit im emotionalen Nirwana – unvorstellbar. Die Pointe verbirgt sich jedoch im ersten Satz. Woanders wird klar gesehen, dass der Westen einen erheblichen Anteil an der Eskalationsspirale trägt. Wenn diktatorische Machthaber wie Luft behandelt werden und am langen Arm ›verhungern‹ (Sicherheitsinteressen über viele Jahre ignoriert), reagieren sie, und zwar nicht freiheitlich-demokratisch. In einer VUCA-Welt mit extremer systemischer Vernetzungsdichte ist solches Nichthandeln unverantwortlich, die Folgen unabsehbar. – Andere Seite, die europäische Sicht: Unverantwortlich ist, einen nicht geführten Dialog mit Krieg und Atomwaffenandrohungen zu beantworten. – Hier haben wir ein Sandkastenspielchen von Machteliten aus dem Lehrbuch. Beide Seiten tragen ihren Teil zum Konflikt bei, aber jeder sieht nur seinen Teil. Das »Argument« Europas, hier würde jede Verhältnismäßigkeit (Rechtsbruch!, Gewalt!, viele Tote!) außer Kraft gesetzt, Putins Forderungen seien absurd usw., ist schwierig. Die anderen sehen genau, dass eine globale Friedenspolitik auf Basis des westlichen Habitus’ genauso wenig funktioniert wie im Weltbild von Putin. Sagen und schreiben tun das aber nur Nicht-Europäer.
  • #3 Aktuell bewertet: Gefühlt das realistischste.
  • #4 Aktuell bewertet: Wolkenkuckucksheim. Allerdings immer noch wahrscheinlicher als #2, da hier die globale Weltgemeinschaft an einem Strang zieht. Das funktioniert derzeit ja verblüffend gut (mit Luft nach oben).

Denksportaufgabe

Was würde ein sich in der Tradition von Aufklärung und Friedenssicherung verstehendes Europa anstreben? Natürlich #2. Die Kluft, die zwischen unser aller Emotionen (zumindest denjenigen sehr vieler solidarischer Menschen in Europa) und dieser möglichen Zielstellung liegt - auch und gerade wegen der anderen mittel- und osteuropäischen Staaten, die berechtigt Angst haben -, reflektiert den Stand unserer Zivilisation. Und zwar nicht im Sinne von: »Schaffen wir das?«, Realismus, Wahrscheinlichkeit und Erfolgsaussichten. Sondern zuallererst im Sinne von: »Trauen wir uns diese Option mental, wirtschaftlich und politisch zu? Wollen wir versuchen, das zu stemmen?«. Denn Schritt 1 kommt vor Schritt 2.

Es ist die Leistung wissenschaftsnaher Zukunftsforschung, solche Gedankenspiele auszuformulieren und in eine für sie gefühls- und lebensfremde Welt zu werfen. Was die Welt damit macht, entscheidet sie dann selbst – sage nur keiner, die Möglichkeit existiere nicht. Sie existiert genau dann, wenn, wie bei der Mondlandung Präsident Kennedy das ausformuliert hat, eine Gesellschaft sich solche »Moonshots« zutraut ("wir tun das nicht weil es einfach ist").

Wir können derlei inzwischen. Auch Europa. Unsere Moonshots blieben allerdings terrestrisch - und darin zutiefst überzeugt. Aber keinen Deut weniger anspruchsvoll.

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